impulse
Digitales Magazin • Dezember 2023
Angelika Wiehl
erinnerungsbilder
Eine Methode für das Verstehen des Jugendalters
Einleitung
Die Jugendzeit hinterlässt in jeder Biografie Spuren. Aus diesem Grund können wir davon ausgehen, dass wir vieles, was aus pädagogischer Sicht für das Verstehen dieser Entwicklungsphase notwendig ist, in uns tragen. Daran setzt die Arbeit mit Erinnerungsbildern an, die nachklingende Momente des eigenen Lebenslaufs wachruft. Die folgende Skizze gründet in Erfahrungen der Autorin mit dieser Methode, die in Seminaren zu Entwicklungs- und Lernprozessen sowie zur Anthropologie und Pädagogik des Jugendalters angewendet und derzeit erforscht wird. Sie ermöglicht, persönliche Beobachtungen in der pädagogischen Praxis mit Kenntnissen der Anthropologie des Jugendalters in Zusammenhang zu bringen und diese wiederum durch die Reflexion eigener Erfahrungen zu beleben.
Jugend oder Jugenden?
Je nach Forschungs- und Arbeitsfeld scheint es am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr eindeutig zu sein, ob mit Jugend eine bestimmte Lebensepoche zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gemeint ist, oder ob wir lieber von Jugenden sprechen wollen, die sich durch unterschiedliche Herkünfte und Lebensstile definieren (Blumenthal et al. 2020). Neben den Veränderungen des Körperlichen und der Ablösung von Familie und vertrautem Lebensumkreis spielen die von «Hoch- und Tiefgefühlen» geprägten seelischen Prozesse eine große Rolle (Stemplinger 2022, S. 19). Sich als Jugendliche:r neu finden zu müssen, kann mit Verunsicherung, Rückzug, Ablenkung oder Ausbrechen einhergehen und verlangt von Erwachsenen eine Sensibilisierung für eine adäquate Entwicklungsunterstützung.
Die auf Rudolf Steiners Ausführungen zum Jugendalter gründende Waldorf-Oberstufenpädagogik geht von einer Lebensphase zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr, dem sogenannten dritten Jahrsiebt aus, dessen markante Eckpunkte den Eintritt in die Pubertät und das Ende der Jugend markieren (Selg 2005, S. 17ff.; Wiehl & Zech 2021, S. 91ff.). Allerdings ist diese Beschreibung als eine idealtypische zu verstehen, insbesondere weil sich die Pubertät heute um über zwei Jahre früher einstellt als vor 100 Jahren, als Steiner seine Vorträge zum Jugendalter hielt, und sich gleichzeitig die Jugendphase bis in die Mitte des dritten Jahrzehnts ausdehnt (Wiehl 2021, S. 24f.). Das Jugendalter umfasst demnach die Lebenspanne vom elften, zwölften bis etwa zum 25. Lebensjahr. Die zeitliche Verfrühung der Pubertät gibt Anlass zu der Frage, ob Steiners Aussagen zur Jugendpädagogik möglicherweise bereits oder vor allem auf eine jüngere Altersgruppe zutreffen, also nicht am Übergang von der neunten in die zehnte Klasse, sondern bereits in der sechsten und siebten Klasse zu beachten sind. Es gilt außerdem für die pädagogische Praxis abzuwägen, ob die früher einsetzende Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale auch mit einer früher eintretenden seelischen Veränderung einhergeht.
Rudolf Steiner zum Übergang ins Jugendalter
Nach Rudolf Steiner findet um das 14., 15. Lebensjahr eine grundlegende Veränderung der leiblichen und seelisch-geistigen Konstitution statt, einhergehend mit dem Bedürfnis, die Welt zu verstehen und eigenständige Urteile bilden zu können. Er charakterisiert diese Phase als eine «grandiose Metamorphose, die sich mit der Geschlechtsreife für den heranwachsenden Menschen abspielt» (Steiner 1987, S. 242) und durch die das individuelle Geistig-Seelische in den Knochen- und Muskelbereich so eingreift, dass sich im rhythmischen Bereich eine Stauung ereignet (Selg 2005, S. 19f.). Diese Stauung bewirkt eine dynamische, mal mehr nach außen sich zeigende, dann wieder sich zurückziehende Seelenstimmung, also einerseits eine Verinnerlichung, andererseits eine Öffnung für neue Begegnungen und Erfahrungen. Damit verbundene Krisen und Chancen wandeln sich und bilden das Potenzial einer Pädagogik, die die Selbstwerdung im Jugendalter fördert.
Erinnerungsbilder als Quellen einer Seelenkunde
Für eine grundlegende Erschließung dieser entwicklungspsychologischen Aspekte eignen sich «Erinnerungsbilder», die ein früheres Ereignis wieder ins Bewusstsein heben (Barth & Wiehl 2023, S. 134ff.) und die für die Komposition einer «psychologisch-pädagogischen Landkarte» genutzt werden können (Wiehl 2021, S. 269f.). Erinnerungsbilder als Gedächtnisinhalte werden Anfang des 20. Jahrhunderts von Henri Bergson (1886/2015), von Maurice Halbwachs (1966/2022) und Rudolf Steiner (2016, S. 65f.) thematisiert und aktuell in der kunstdidaktischen Forschung angewendet (Engel 2019). Sie können räumlich und zeitlich in der Vergangenheit verortet werden, handeln oft von bestimmten Personen und sind mit Gefühlen verbunden (Halbwachs 1966/2022, S. 48ff.). Daher unterscheiden sie sich von Traumbildern, die, «obwohl sie zur Vergangenheit gehören, von ihr losgelöst sind» (ebd., S. 65). Sobald wir uns Ort und Zeit eines früheren Erlebnisses vorstellen, erwachen immer mehr Details in der Erinnerung und schließen sich in einem Erinnerungsbild zusammen. Jedes durch eine Erinnerung hervorgerufene Vorstellungsbild wird neu geschaffen aus den Eindrücken, die frühere Wahrnehmungen und Vorstellungen bewirkt haben. Rudolf Steiner charakterisiert diesen Vorgang «als Folge von etwas, das außer dem Hervorrufen der gegenwärtigen Vorstellung in dem Verhältnis zwischen Außenwelt und mir stattgefunden hat.» (Steiner 2003, S. 65f.) Das Erzeugen eines Erinnerungsbilds ist ein Schöpfungsakt, in dem etwas Vergangenes erneut wahrgenommen und in innere Bilder gekleidet wird. Erinnerungsbilder können – wie im Folgenden ausgeführt – als phänomenologisch-hermeneutische Methode zur Erschließung und zum Verstehen pädagogischer Handlungsmuster und Entwicklungsphasen angewendet werden.
Karl Philipp Moritz, Gemälde von K.F.J.H. Schumann, 1791
Für die Erarbeitung der psychologisch-pädagogischen Landkarte war Karl Philipp Moritz (1756-1793) der Ideengeber, der ab 1783 die erste psychologische Zeitschrift «Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde» herausgab, für die er von seinen Zeitgenoss:innen Beschreibungen von Personen und ihren Besonderheiten einforderte – eine Methode, aus dem Exemplarischen Gesichtspunkte für eine «Seelenlehre» oder Psychologie zu gewinnen (Wiehl 2021a).
Zur Arbeit mit Erinnerungsbildern
Zunächst werden die Teilnehmenden eines Ausbildungskurses aufgefordert, sich ein Erlebnis zwischen ihrem zwölften und achtzehnten Lebensjahr wachzurufen. Dabei geht es nicht um spektakuläre Ereignisse, sondern um einen nachklingenden Moment an einem bestimmten Ort, in einem Lebensjahr und ggf. mit bestimmten Menschen. Erinnerungen tauchen gewöhnlich spontan oder durch Wiederbegegnungen mit einem Ort, einem Menschen, einer Sinnesempfindung oder einem Gefühl auf. Sie bedürfen der Verortung, um konkret vor dem inneren Auge zu erscheinen. Zunächst macht sich jede Person Notizen zu dem erinnerten Ereignis. Dann blickt er oder sie wie von außen oder oben auf das Ereignis und formuliert es als kurze Erzählung über eine andere Person, also über eine Sie oder einen Er. Diese Außenperspektive ist notwendig, um den durch das Wachrufen des Ereignisses aufkommenden Gefühlen keine Aufmerksamkeit zu schenken, sondern nur auf das frühere Vorkommnis zu blicken und es beschreiben zu können.
Die Erinnerungsbilder der Teilnehmenden werden gesammelt und in einer Zeitschiene chronologisch geordnet. Jede:r ist aufgefordert, ein Motiv, ein Gefühl und/oder einen Gedanken in Worte zu fassen, die als Notizen vermerkt werden. Die Komposition bestehend aus persönlichen Erfahrungen und sich ergebenden Motiven bildet eine psychologisch-pädagogische Landkarte, die Krisen und Chancen der Individuation im Jugendalter beim Namen nennt und die jeweils der menschlichen Biografie eingeschrieben sind. Entscheidend an diesem Vorgehen ist, dass in einer Gruppe beispielsweise von Waldorf-Oberstufenlehrer:innen die Prozesse des Jugendalters als ein selbsterlebtes Gut erkannt und mit zu studierenden Inhalten verbunden werden.
Bei allen Seminaren tauchen ähnliche, die jugendlichen Entwicklungsprozesse benennende Motive auf. Beispielsweise artikulieren sich in Erinnerungen an das zwölfte Lebensjahr die Fähigkeit des inneren Rückzugs, aber auch der persönlichen Verinnerlichung von Erlebnissen und der Sinn für abenteuerliche, die eigenen Grenzen spürende Unternehmungen; das 14., 15. Lebensjahr ist von polarisierenden und sich umorientierenden Erfahrungen geprägt; das 16., 17. Lebensjahr kennzeichnen Brüche, Krisen und Neuanfänge; um das 18., 19. Lebensjahr vollziehen sich die Neuorientierung und Selbstfindung. Diese Vorgänge beschreiben exemplarisch Umbruchs-Momente und können als Wegmarken für eine Auseinandersetzung mit der Anthropologie und Entwicklungspsychologie des Jugendalters dienen.
Das Studium anthropologischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse kann somit durch eine erfahrungsbasierte Arbeit eingeführt und ergänzt werden. Sie zeugt von persönlicher Verbundenheit und authentischem Mit- und Nachvollziehen-Wollen der oftmals krisenhaften Jugendprozesse, die für den Weg der Selbstwerdung bedeutsam sind (Wiehl 2022). Die Jugendphase ist vergleichbar mit einem «Übergangsritual», das eine Trennung oder einen Ablösevorgang einleitet, der gefolgt von einer liminalen Phase zu einer Neuorientierung oder Integration in eine neue Lebenssituation (z. B. das Erwachsensein) führt (ebd.). Das Erarbeiten einer psychologisch-pädagogischen Landkarte dient der Aktivierung der Erkenntnisarbeit mit den Quellentexten Rudolf Steiners (Wiehl & Zech 2021) und anderer Pädagog:innen oder Psycholog:innen.
Literatur
Barth, Ulrike & Wiehl, Angelika (2022): Wahrnehmungsvignetten. Phänomenologisch-reflexives Denken und professionelle Haltung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Bergson, Henri (1886/2015): Materie und Gedächtnis. Hamburg: Meiner.
Blumenthal, Sara-Friederike; Sting, Stephan & Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2020): Pädagogische Anthropologie der Jugendlichen. Weinheim Beltz Juventa.
Engel, Birgit (2019): Erinnerungsbilder – Annäherung an eine leibphänomenologische Systematik der Förderung professionsbezogener Bildungsprozesse. In: Brinkmann, Malte; Türstig, Johannes & Weber-Spanknebel, Martin (Hrsg.): Leib – Leiblichkeit – Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Wiesbaden: Springer, S. 37-56.
Halbwachs, Maurice (1966/2022): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Selg, Peter (2005): «Eine grandiose Metamorphose». Zur geisteswissenschaftlichen Anthropologie und Pädagogik des Jugendalters. Dornach: Verlag am Goetheanum.
Steiner, Rudolf (1987): Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik, 1921–1922. 4. Auflage. GA 303. Dornach: Rudolf Steiner Verlag.
Steiner, Rudolf (2003): Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, 1904/1924. 32., durchgesehene Auflage. GA 9. Dornach: Rudolf Steiner Verlag.
Stemplinger, Petra (2022): Phänomenologisch-goetheanistische Seelenkunde der Jugendzeit. In: Wiehl, Angelika & Steinwachs, Frank (Hrsg.): Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/utb, S. 15-27.
Wiehl, Angelika (2021a): Arbeitsanregungen zur Jugendpädagogik. In: Wiehl, Angelika & Zech, M. Michael (Hrsg.): Jugendpädagogik in der Waldorfschule. Studienbuch. 3., verbesserte Auflage. Kassel: Pädagogische Forschungsstelle, S. 265-276.
Wiehl, Angelika (2021b): Einführung in die Jugendpädagogik. In: Wiehl, Angelika & Zech, M. Michael (Hrsg.): Jugendpädagogik in der Waldorfschule. Studienbuch. 3., verbesserte Auflage. Kassel: Pädagogische Forschungsstelle, S. 15-46.
Wiehl, Angelika (2022): Übergangsrituale und Individuation im Jugendalter. In: Wiehl, Angelika & Steinwachs, Frank (Hrsg.): Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/utb, S. 173-186.
Wiehl, Angelika & Zech, M. Michael (Hrsg.) (2021): Jugendpädagogik in der Waldorfschule. Studienbuch. 3., verbesserte Auflage. Kassel: Pädagogische Forschungsstelle.
Dr. Angelika Wiehl • Dozentin für Waldorfpädagogik, Alanus Hochschule, Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität, Mannheim.