impulse
Digitales Magazin • Oktober 2023
Daniel Baumgartner
auf der suche nach der
pädagogischen ur-sache
Pädagogik ist ein schillerndes Feld von Methoden, Theorien und Anwendungsgebieten. Sie ist je nachdem integrativ oder inklusiv, präventiv, interkulturell, erlebnisorientiert, berufsbezogen und noch viel mehr. Auch die Waldorfpädagogik verfügt mit ihrer einzigartigen Menschenkunde über eine Methodik und Didaktik, die Rudolf Steiner mit zahlreichen Beispielen begründet und konkretisiert hat, auch über einen eigenen Lehrplan, hunderte von liebevoll gestalteten Schulhäusern und sogar über den Zusammenschluss zu einer weltweiten Bewegung.
Manchmal kann der Satz von Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, befreiend sein: «Zurück zu den Sachen selbst!» Was sind denn die Sachen der Pädagogik? Die Begegnungen von Lehrpersonen und Lernenden. Sie liegen allem zugrunde, was als Pädagogik auftritt. Es lässt sich aber auch umkehren: Wo ältere Menschen und jüngere Menschen in ein Verhältnis treten, findet immer Pädagogik statt – im Elternhaus, in der Schule, in der Freizeit, im Leben.
Es lässt sich noch allgemeiner formulieren: Wo Pädagogik stattfindet, gibt es einen Austausch von Menschen, wobei ein Teil beschlossen hat, später auf die Welt zu kommen als der andere. Spirituell gesehen sind die früher Geborenen noch mehr mit der vorgeburtlichen Welt verbunden als die später Geborenen, denen der Weg zur nachtodlichen Welt immer deutlicher vor das Gesichtsfeld tritt.
Für Platon bestand der Prozess der Pädagogik darin, beim jüngeren Menschen die Anamnesis (Erinnerung) an die Zeit vor der Geburt, die das Reich der Ideen darstellt, zu wecken. Seine Dialoge des Sokrates bilden Beispiele dafür. Sein Schüler Aristoteles stellt die Technik des Denkens ins Zentrum, als Schlussverfahren. Wer lehrt und lernt, muss den Syllogismus verstehen. Aristoteles Beispiel: Alle Menschen sind sterblich – Sokrates ist ein Mensch – Also ist Sokrates sterblich. Die Sterblichkeit von Sokrates ist das Schicksal des lehrenden Menschen als später Geborener. Er geht den gegenläufigen Weg der Anamnesis: Er will und soll aus seiner Sterblichkeit heraus den Geist zum Leben erwecken. Das ist eine Gebärde der Anastasis (Auferstehung). Pädagogik verläuft zwischen Anamnesis und Anastasis.
Was ist dazwischen? Dazwischen ist die Substanz der Pädagogik als das Zwischenmenschliche. Schauen wir genauer hin. Auf der einen Seite steht ein Mensch, dessen Jugendlichkeit leiblich vollumfänglich manifestiert, seelisch und geistig aber noch im Werden ist. Er lebt auf Gnaden der Lebenskräfte der Natalität. Auf der andern Seite steht ein Mensch, der sich leiblich von seiner Jugendlichkeit so weit entfernt hat, dass die Mortalität – auch wenn man das nicht wahrhaben will – ihm adäquater ist, er aber dadurch die Potenz besitzt, seine seelisch-geistige Jugendlichkeit ins Unermessliche zu steigern. Führt man das zusammen, entsteht ein neuer Mensch, den es sonst nicht gibt. Ein durch und durch aus den Lebenskräften heraus gestaltetes leiblich-seelisch-geistiges Wesen. Aber nur dann, wenn der ältere Mensch seine Aufgaben macht, das heisst, sich seelisch-geistig unermüdlich weiter entwickelt.
Dieses zwischenmenschliche Wesen – die Römer sprachen vom puer aeternus (heute ergänzungsbedürftig: puera aeterna) –, dem ewigen Menschen als Knabe und Mädchen. Das heisst aber nichts anderes, als dass das sonst nicht bedachte Zusammenleben von jüngeren und älteren Menschen die Zwischenräume, Intervalle bildet, die das Menschliche permanent erneuern können. Da wird die Ur-Sache zum Mysterium. Wird dies nicht bedacht, entstehen die Generationenkonflikte, die Ausdruck davon sind, dass Menschen sich die Trostlosigkeit einverleiben, im Strom der Zeit zwischen Geburt und Tod gefangen zu sein, dass die Natalität in die zeitverschobene Mortalität hineinverschwindet.
Wird dies bedacht, gelangt man von selbst zu einer methodisch-didaktisch fundierten Kunst des Zusammenlebens der Generationen, wobei die Schule nur ein Beispiel unter vielen ist. Leider verdeckt der Institutionalismus der Schule diese Zusammenhänge. So wird das Lebenslernen zum Lehrplan, die aufweckende Begegnung zum Unterrichtssetting, die Selbsterkenntnis zur Leistungsbewertung.
Dessen sollte man sich immer bewusst sein, ohne den Mut zu verlieren. Waldorfpädgogik kann den Schutzraum schaffen, aber soll ihn nicht ästhetisierend und traditionalisierend zuschütten. Waldorfpädagogik erfordert, subtil und subversiv tätig zu sein und das Konstrukt Schule nicht dem Geist des Institutionalismus zu überlassen. Denn wer auf Initiative baut – und nun tritt noch etwas anderes auf, was Sache ist – hat seine «Sach auf Nichts gestellt», um den von Rudolf Steiner sehr geschätzten Max Stirner mit seinem Motto zum Buch «Der Einzige und sein Eigentum» noch zu Wort kommen zu lassen.
Textfassung eines Impulsreferates anlässlich der Weiterbildungstagung vom 21.-22. September 2023, veranstaltet vom Seminar Atelierschule zum Thema «Wohin führt uns die Waldorfpädagogik? Wohin will ich mit der Waldorfpädagogik?»
Daniel Baumgartner, Schulleitung FOS Freie Mittelschule, Muttenz.