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impulse

Digitales Magazin • November 2024

 

 

 

Henrik Löning / Valentin Meidinger

 

 
übende und individualisierende lernwege
 


 

Henrik Löning
 

Zur Fortbildungstagung im September 2024


Im Mittelpunkt der zum obigen Titel veranstalteten diesjährigen Fortbildungstagung an der Atelierschule stand die Bedeutung des Übens, das im Vollziehen immer auch eine individualisierende Tätigkeit ist, für Schüler:innen und Lehrpersonen.

In drei verschiedenen Kursangeboten wurde diese für die Waldorfpädagogik zentrale Thematik an zwei Tagen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und vertieft. Peter Lutzker, Lehrer und Dozent für Didaktik der Fremdsprachen an der Freien Hochschule Stuttgart, hat sich intensiv mit der Frage des Übens auseinandergesetzt und dabei einen Schwerpunkt auf individualisierte Übungswege in der Zeit der Pubertät gelegt, eine Phase, in der die Hinwendung zum Üben häufig deutlich abnimmt. Der Kurs und Abendvortrag der Kunsthistorikerin und Waldorfpädagogin Birgit Wegerich-Bauer aus Frankfurt befasst sich mit den von ihr erforschten Themen Hochbegabung und Hochsensibilität. Und die Zürcher Kollegen Wolfgang Steffen und Valentin Meidinger betrachteten sowohl die Lehrpersonen als auch die Schülerinnen und Schüler als Übende.

Die gut besuchte, zweitägige Veranstaltung wurde von den Teilnehmenden als sehr anregend empfunden und bot Gelegenheit zum schulübergreifenden Austausch, sich schulübergreifend auszutauschen und zu vernetzen.

 

 

Valentin Meidinger

Über das Üben

 
In der Schule beschäftigen wir uns oft mit dem Üben. Wir wollen, dass die jungen Menschen gewisse Tätigkeiten üben. Es lohnt sich, das Üben einmal genauer anzusehen. Üben ist ein methodisch wiederholtes Handeln mit dem Ziel, Können aufzubauen, aufrechtzuerhalten oder zu steigern. Durch die Wiederholung verändern oder verstärken sich Gedächtnisinhalte oder Körperschemata, was zu persistentem Wissen und Können führt. Schon Aristoteles aber fasste das Üben wesentlich umfassender auf, er hielt es nämlich für unabdingbar für ein glückliches Leben (eudaimonia): Nur wiederholtes Handeln kann Tugend zur Gewohnheit werden lassen. Es geht also nicht nur um die Erweiterung von Wissen und Können, sondern um die Veränderung des Menschen hin zur eudaimonia. Im Altertum war es auch klar, dass glückliches Leben theoretische und praktische Übungen beinhalten muss. Mit der Zeit aber verlor das Üben seine ästhetisch-sinnliche und seine praktisch-ethische Dimension und beschränkte sich vermehrt auf den methodisch-kognitiven Aspekt. In der Schule gibt es die Übung inzwischen fast nur noch körperlich (Stillsitzen und Sport) und in Form von Hausaufgaben, die aber eher an flüchtiges kognitives Einlernen, Drill, mechanisches Pauken, stumpfes Automatisieren erinnern. Dabei kennen wir es durch Selbstbeobachtung und so wird es auch neurowissenschaftlich bestätigt: das Üben, also die wiederholte, möglichst gleichförmige und fehlerfreie Ausführung einer Tätigkeit, ist eine hervorragende Methode, sich etwas anzueignen.

Der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow schrieb 1978 das Buch Vom Geist des Übens, in dem er versucht, das Üben in allen seinen Dimensionen wieder aufleben zu lassen. Er schreibt da: «Wenn wir das wahre Leben des Menschen mit dem Begriff der inneren Freiheit bezeichnen, dann ist die Übung der Weg – und zwar der einzige Weg – auf dem der Mensch durch eigene Anstrengung zur inneren Freiheit gelangen kann.» (1) Dieser These gehen wir nun nach.

Für Bollnow wird Wissen gelehrt oder eingesehen, eine Einsicht wird erweckt. Geübt werden muss nur ein Können und alles Können entsteht durch Übung. Dieses Üben ist aus mehreren Blickwinkeln betrachtet an sich wertvoll: Es ist beglückend! Ein erfolgreiches, fehlerfreies Gelingen fühlt sich gut an. Ausserdem bedarf Üben der Konzentration. Diese wird also bei jeder Übung auch beübt. Damit bekommt die Übung ein zweites Ziel, neben der Sache oder der Methode, die beübt wird. Aber es geht auch nicht nur um Konzentration: Wir üben nach einer Weile, um eine bestimmte innere Verfassung zu erlangen.
 
Bollnow verweist auf Eugen Herrigel und Karlfried Graf Dürckheim, ihr Studium und ihre Erfahrungen des Übens in der japanischen Kultur des Zen-Buddhismus (2). Herrigel beschreibt die innere Verfassung des Übens in seinem Werk Zen und die Kunst des Bogenschiessens sehr anschaulich: Die Verwandlung des Übenden hat zum Ziel, «von sich selbst loszukommen», «unbetroffen in sich zu verweilen», «absichtslos» und «ichlos» zu werden. Mit dem Abbau des Ichs meint Dürckheim den «Abbau des ‹kleinen›, machtdurstigen, geltungsbedürftigen und am Besitz haftenden Ichs, das immer ängstlich auf seinen Bestand, seinen Erfolg und seine Position bedacht ist.» Er meint den «ichlosen Vollzug des Handelns», einen «ichlosen Einklang», in dem der Mensch «einen tief beglückenden Einklang von Subjekt und Objekt» und «darüber hinaus den Einklang seines Lebens mit einem grossen, umfassenden Leben erfährt. Es ist ein Zustand, in dem der Mensch zu seinem ursprünglichen und wahren Wesen erwacht ist.» Wir üben also, um eine bessere Version unseres Selbst zu werden.

Damit hört das Üben nie auf, ja, es ist eigentlich erst möglich, nachdem ein vollkommenes Können erreicht ist. Denn erst dann üben wir an uns selbst und nicht mehr an einem bestimmten Können. Das ist für Bollnow zentral, denn: «Der Mensch fühlt sich innerlich frei, wenn er sich und seine Verhältnisse so aneinander angepasst hat, dass er diese Verhältnisse nicht mehr als Druck empfindet, unter dem er zu leiden hat, sondern sich in ihnen wohlfühlt wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.» Und noch einmal anders ausgedrückt: «Die eine Seite der inneren Freiheit besteht also in dem Bewusstsein, nicht durch äussere Umstände in der eignen Bewegungsfreiheit beengt zu sein. Weil aber die Umstände nur zum geringen Teil vom Menschen abhängig sind, gewinnt die andere Seite an Wichtigkeit: die notwendige Veränderung im Menschen selbst, durch die er sich in Einklang mit den Umständen zu setzen vermag.» (3)

Diese Veränderung im Menschen kann eben durch Übung hervorgerufen werden. Was wir dabei üben, ist relativ irrelevant, aber es gibt Voraussetzungen für das Gelingen von Übung: Das Üben braucht uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Konzentration. Druck oder Zwang aber verunmöglichen den Erfolg der Übung. Selbstvergessene Hingabe und nicht nachlassender Wille, sein Können zu steigern, muss gegen krampfhafte Anspannung und verzweifeltes Eilen abgewogen werden, denn nur in einem ausgeglichenen Zustand können wir erfolgreich üben.
 
Für die Schule sind diese Überlegungen aus zwei Gründen interessant: Einerseits sollen unsere Schüler:innen ja üben, darüber scheinen sich die meisten einig zu sein. Schaffen wir es aber, dieses Üben so zu gestalten, dass die jungen Menschen die Möglichkeit haben, wirklich frei sich übend in die Tätigkeit einzutauchen? Andererseits betrifft das Üben aber auch uns Lehrpersonen. Ich erlaube mir, eine Aussage von Steiner aus den Vorträgen zur Meditativ erarbeiteten Menschenkunde in diese Richtung zu interpretieren: «Wenn Sie am Anfang des Schuljahres wirklich das alles gekonnt hätten, was Sie nun am Ende des Jahres können, so hätten Sie schlecht unterrichtet. Gut haben Sie dadurch unterrichtet, dass Sie es sich erst erarbeitet haben! [...] Diese eigentümliche Art von innerster Bescheidenheit, dieses Gefühl des eigenen Werdens – das ist etwas, was den Lehrer tragen muss; denn aus diesem Gefühl geht mehr hervor als aus irgendwelchen abstrakten Grundsätzen.» (4)

Das gilt in meinen Augen nicht nur für Neulinge unter den Lehrpersonen, sondern für alle und immer!

 

  1. Otto Friedrich Bollnow, Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf eine elementare didaktische Erfahrung, Freiburg im Breisgau 1978, S. 11. Online: https://bollnow-gesellschaft.de/schriften/detail/vom_geist_des_
    uebens__eine_rueck-38.html
    In der waldorfpädagogischen Literatur siehe zum Verständnis des Übens vor allem: Peter Lutzker, Training und Üben in der Mittel- und Oberstufe. Vergleichende Ansätze am Beispiel des Fremdsprachenunterrichts, in: Richard Landl (Hg.), Aufbruch in die Welt. Waldorfpädagogische Grundlagen der Oberstufe mit Unterrichtsbeispielen, S. 121–146.
    Über Bollnows Mitläufertum in der Zeit des Nationalsozialismus orientiert ein Artikel von Paul Kahl auf der Webseite der Otto Friedrich Bollnow-Gesellschaft.
  2. Die folgenden Zitate aus Bollnow, der Herrigel und Dürckheim zitiert, a.a.O., S. 45–48.
  3. Bollnow, a.a.O., S. 76–77.
  4. Rudolf Steiner, Meditativ erarbeitete Menschenkunde, in: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, GA 302a, 4. Auflage, Dornach 1993, S. 19–20.

 

 


Henrik Löning • Lehrer für Bildnerisches Gestalten, Mitglied der Schulleitung, Seminarleitung, Atelierschule Zürich.

Valentin Meidinger • Lehrer für Mathematik, Atelierschule Zürich.