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impulse

Digitales Magazin • März 2024

 

 

 

Laurino Lucca Amos

 

 

unerhörte rufe und utopien

 

wie gelingt die schule der zukunft?

 

 

 

Nie war ich lebendiger als in der Stunde meines Todes, jetzt. Was ich lebendig nenne? Was nenne ich lebendig. Das Schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst zu ändern.

Christa Wolf, Kassandra (1) 

 

Kassandra warnte alle, doch niemand hörte sie

Mein Lieblingsbuch ist Kassandra von Christa Wolf. Es war, soweit ich mich erinnern kann, das erste und bis anhin letzte Buch, das mich zu Tränen rührte. In Form eines Monologs schildert die auf einem Wagen Richtung Tod fahrende Kassandra, die Tochter des trojanischen Königspaars Priamos und Hekabe, ihre tragische Geschichte.

 

Abbildung 1: Evelyn de Morgan, Cassandra, 1898

 

Die Seherin Kassandra (siehe Abb. 1) hatte die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen. Doch die Gabe kam mit dem Fluch, dass niemand ihr glauben sollte. So ignorierte man sie auch, als sie vor dem «Pferd» vor den Toren Trojas warnte. Und so ging das grossartige Troja an seiner eigenen Ignoranz zugrunde. Wolf zeichnet gekonnt das Bild einer Nation, die der reinen Ideologie verfällt. Textpassagen wie «Krieg durfte es nicht heissen. Die Sprachregelung lautete zutreffend: Überfall» (1) lassen einen vergessen, dass das Buch bereits 1983 erschien. König Priamos wurde im Laufe des zehnjährigen Krieges zunehmend von Schergen der Palastwache beeinflusst und der Königin wurde die Teilnahme an den Ratssitzungen verwehrt. Im Patriarchat verstummte das Weibliche. Während im klassischen Epos Ilias aus dem 8. Jhd. v. Chr. Achilles als Held gefeiert wird, liefert Wolf nun eine andere Sichtweise auf die Dinge. Hier ist es «Achill das Vieh», der gnadenlos schlachtet und Frauen vergewaltigt. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Inmitten des Krieges besteht vor den Toren Trojas auf dem Ida-Berg eine Neben-, eine Gegenwelt. Eine Gemeinschaft, in der das Weibliche weiterhin bestehen und in welcher auch Kassandra untertauchen und aufgehen konnte. Es ist diese Utopie inmitten des gnadenlosen Krieges, die mich beim Lesen so berührte.

 

Der Zustand unserer Welt und die Ausblicke auf die Zukunft sind dystopisch

Kassandra kann als Kritik an der DDR mitsamt seinem Stasi-Apparat, aber auch als Kritik an der atomaren Aufrüstung während des Kalten Krieges gelesen werden. Kassandra ist zudem weiterhin brandaktuell. Kriege dominieren unsere Medienberichterstattung, Populismus, gar Faschismus werden vermehrt salonfähig und die Rechte von Frauen und Minderheiten werden immer noch oder wieder eingeschränkt. Kassandrarufe (vor schrecklichen Ereignissen warnende Vorhersagen, die allerdings niemand hören mag) gibt es derzeit zuhauf. Die fortschreitende Klimakatastrophe wird zunehmend verheerendere Folgen für Mensch und Umwelt mit sich bringen (2). Das gesteckte Ziel, die Erderwärmung in Bezug auf die vorindustrielle Zeit auf 1.5 °C zu beschränken, ist realistisch eigentlich nicht mehr zu erreichen. ETH-Klimaforscher Reto Knutti erklärt anschaulich, was eine mögliche durchschnittliche Erwärmung von weltweit 5 °C bedeutet: «5 Grad in die andere Richtung, als Vergleich, das war die letzte Eiszeit. Etwa zwei Drittel der Schweiz waren damals von Eis bedeckt. Die Gletscher sind über das Aaretal und den Thunersee bis nach Bern gekommen. Der Uetliberg hat knapp aus dem Eis hervorgeschaut» (3).

Der Klimawandel ist eine von 9 «Planetary Boundaries» (4). Diese Grenzen definieren den sicheren Handlungsraum für die Menschheit in Bezug auf das Erdsystem. Einfach erklärt: dieses Modell beschreibt Grenzwerte, innerhalb deren sich die Erde weiterhin in jenem stabilen Zustand der letzten 10'000 Jahre befindet. Dieser Zeitraum (Holozän), der mit dem Ende der letzten Eiszeit begann, war und ist von einer aussergewöhnlicher Stabilität geprägt (die globale Durchschnittstemperatur schwankte stets nur +/- 1 °C, es gab stabile Meeresspiegel und voraussagbare Jahreszeiten). Diese Stabilität erlaubte erst die Entwicklung der Landwirtschaft und unserer modernen Zivilisationen. Werden diese Grenzwerte überschritten, werden irreversible Kipppunkte erreicht. Zum Beispiel, wenn der boreale Permafrost im Norden Kanadas schmilzt und der seit Jahrtausenden gespeicherte Kohlenstoff freigesetzt wird (5).

 

Abbildung 2: Derzeitiger Status der Kontrollvariablen
für alle neun planetarischen Grenzen (6).

 

Die neusten Forschungsergebnisse (6) zeigen auf, dass sechs dieser neun planetaren Grenzen bereits überschritten sind und sich die Erde nun deutlich ausserhalb des sicheren Handlungsraums für die Menschheit befindet (siehe Abb. 2). Der grosse rote Balken (genetic biosphere integrity) steht für die Aussterberate von Arten. Diese ist 10- bis 100-mal höher als die sogenannte Hintergrund-Aussterberate, welche natürlicherweise immer auftretende Aussterbeevents berücksichtigt. Solch hohe Raten gab es zuletzt beim Massenaussterben vor 66 Mio. Jahren, welche die Ära der Dinosaurier beendete. Das sechste Massenaussterben ist Realität, wir sind mittendrin und wir sind die Verursachenden (7). Ein Drittel aller Arten in der Schweiz ist gefährdet (bei den Reptilien und Amphibien sind es bereits rund 80%), während wir und unsere Nutztiere weltweit 96% der Biomasse aller Säugetiere ausmachen (8). Übrigens: diese Fakten bringen mich auch zum Weinen, aber nicht aus Rührung, sondern aus Verzweiflung (vgl. Abb. 1). In seinem  Video stellt David Attenborough anschaulich das Problem und Lösungsansätze dar (10).

 

Wir brauchen realistische Utopien. Jetzt. Gemeinsam.

Angesicht dieser Tatsachen wird doch allen klar: ein «Weiter wie bisher» ist keine Option. Um das Steuer herumzureissen, braucht es mehr als Fakten und einen nüchternen Blick. Wir brauchen Impulse für eine bessere Zukunft! Es kann doch nicht sein, dass wir aus Scham vor der Vergangenheit oder aus Angst vor der Katastrophe heraus handeln. Wir müssen Zukunft wollen. Wir müssen eine Zukunft wollen, die für uns und unsere Umwelt lebenswert ist. Wir brauchen unseren Ida-Berg. Nicht als Zufluchtsinsel vor den kommenden Katastrophen und den vorherrschenden Ideologien, sondern als realistische Utopie für unseren Planeten, die ein Zusammenleben aller Menschen im Gleichgewicht mit der Natur ermöglicht. Wie kann man 8 Milliarden Menschen ernähren, ohne den Planeten weiterhin zu zerstören und wie kann man den Mobilitätswandel vorantreiben? Wie überwinden wir die Illusion von grenzenlosem Wachstum in einer begrenzten Welt? Wie schaffen wir es, im Zeitalter des Individualismus neben der persönlichen Entfaltung auch zur Gemeinschaft zu finden? Wie etablieren wir Gerechtigkeit, Solidarität und Gemeinwohl? Wie schaffen wir Narrative, die diesen Wandel bildhaft begleiten? Wenn die Technik (Roboter, AI) solche Fortschritte macht, wann kommt der Moment, wo wir endlich weniger arbeiten müssen und mehr Zeit zum Denken, Fühlen und Wollen haben? Der deutsche Soziologe Harald Welzer skizziert in seinem Buch Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen (11) ein Bild einer neuen Gesellschaft und gibt Bausteine, mit denen das «Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt» realistisch gelingen kann. Handfestes wird begleitet von inspirierenden Formulierungen wie «die Verbesserung der Welt kann man nicht delegieren, die muss man selber machen (S. 186) und «Utopien muss man anschauen können» (S. 295). Wir brauchen also anschauliche, ästhetische und vor allem von Diversität geprägte Utopien.

 

Die Schule der Zukunft – Ort des Ermutigens zur Freiheit, Ort der Utopien

 

Und wer Pädagogik in sich aufnehmen will, der schreibe sich vor diese Pädagogik als Motto:

Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,
habe den Mut zur Wahrheit,
schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.

Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde (12)

Nun zu meinem eigentlichen Anliegen. Wenn wir unsere Welt verändern wollen und unseren Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben wollen, Utopien zu entwickeln, brauchen wir ein anderes Schulsystem. Das obenstehende Zitat ist das Motto einer Pädagogik, die zur Freiheit ermutigt und es kann das Motto der Schule der Zukunft werden. Ein Verantwortlichkeitsgefühl für unsere Umwelt und unsere Mitmenschen ist elementar. Nur so gelingt eine gerechtere Welt. Ein ausgeprägter Wahrheitssinn hilft uns dabei, Ideologien zu enttarnen und die Fakten in einer Flut von Informationen zu erkennen. Und um bildhafte, diverse Utopien zu entwickeln, brauchen wir Fantasie. Wir brauchen verdammt viel Fantasie. Wenn wir eine Schule haben, die diesem Motto gerecht wird, gelingt uns Zukunft. Wir sind leider noch weit davon entfernt.
Dieses Jahr feiern wir 20 Jahre Atelierschule. Wir dürfen stolz auf viel Gelungenes zurückblicken. Der Schulalltag an der Atelierschule ist lebendig. Zahlreiche Projekte wie das Kunstgeschichts- und Feldmesslager, Theaterprojekte, Sozialpraktikum, drei parallel stattfindende Landschaftspraktika, Atelierunterricht für die Schwerpunktfächer und modularer Musik- und Sportunterricht geben einen Vorgeschmack darauf, wie die (Mittel-)Schule der Zukunft aussehen könnte. Als Schule in freier Trägerschaft haben wir einen grossen Handlungsspielraum, den es auszugestalten gilt. Ich habe Lust darauf, an diesem Zukunftsprojekt weiterzuarbeiten. Natürlich müssen wir dies gemeinsam tun, aber ich habe da schon mal fünf grundlegende Ideen:

1. Was sind meine inneren Fragen und Impulse? Geben wir dem Fragen und dem Suchen nach Lösungsansätzen, der Willensbildung, Idealen und der Fantasie mehr Raum. Es gilt, die eigenen, bereits veranlagten, aber noch schlummernden Impulse zu wecken. Übrigens: Lebenslanges Lernen darf und soll Spass machen.

2. Echte Begegnungen und echte Gemeinschaft: Die Entfaltung der leiblichen, seelischen und geistigen Individualität ist die Grundlage für echte Begegnungen, echte Zusammenarbeit und echte Gemeinschaft. Die vor uns liegenden Herausforderungen können nur gemeinschaftlich gelöst werden.

3. Aktiv gelebte Schulentwicklung: Finanziell und menschlich wird in Schulentwicklung investiert. Schulentwicklung und Schulorganisation ist die gemeinsame Aufgabe der ganzen Schulgemeinschaft, inkl. Schüler:innen. Schule selbst ist ein gemeinschaftliches, im Werden begriffenes Projekt.

4. Nur noch Ateliers und Projekte: Klassenzimmer werden abgeschafft und Schule findet in Ateliers statt, drinnen und draussen. Klassische Fächer werden ersetzt durch interdisziplinäre Projekte mit selbstständigem Lernen. Wissen wird kontextbezogen erworben und angewendet. Lehrpersonen begleiten mit ihrem Fachwissen diese Projekte oder sind selbst Teil davon. Obwohl (oder gerade weil) dies ein Abbau des Leistungs- und Stoffdrucks bedingt, können jegliche Lernziele (und sogar mehr) dadurch locker abgedeckt werden.

5. Freiräume für die Schule der Zukunft: Es braucht physische, zeitliche und gedankliche Freiräume für den Austausch, für die Musse, für die Impulse und die Visionen. Freiräume für Utopien. Beispiele könnten grosszügige Begegnungszonen und ein freier, unverplanter Tag pro Woche sein (Vier-Tage-Woche).

Ich möchte nicht der Rufende sein. Vor allem möchte ich nicht derjenige sein, der die Rufe nicht hört. Jetzt ist es an der Zeit, anzupacken. Jetzt geht’s ans Bauen und Gestalten. Ich habe viel Energie und einen langen Atem. Vor allem habe ich Lust auf Zukunft. Du auch?

Es gibt Zeitenlöcher. Dies ist so eines, hier und jetzt. Wir dürfen es nicht ungenutzt vergehen lassen. Da endlich, hatte ich mein «Wir».

Christa Wolf, Kassandra (1)

 

 

 

  1. Wolf C. Kassandra. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2008.
  2. Calvin K, Dasgupta D, Krinner G, Mukherji A, Thorne PW, Trisos C et al. IPCC, 2023: Climate Change 2023: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Core Writing Team, H. Lee and J. Romero (eds.)]. IPCC, Geneva, Switzerland; 2023.
  3. Ryser D. Herr Knutti, sind wir noch zu retten? – «Wenn sich alle so verhalten wie Sie, erreichen wir die Klimaziele nicht». Republik [Internet]. 2019 [abgerufen am 23.02.2024]; URL: https://www.republik.ch/2019/11/23/herr-knutti-sind-wir-noch-zu-retten
  4. Rockström J, Steffen W, Noone K, Persson Å, Chapin FS, Lambin EF et. al. A safe operating space for humanity. Nature. 23. September 2009; 461(7263):472–5.
  5. Armstrong McKay DI, Staal A, Abrams JF, Winkelmann R, Sakschewski B, Loriani S et. al. Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science. 9. September 2022; 377(6611).
  6. Richardson K, Steffen W, Lucht W, Bendtsen J, Cornell SE, Donges JF et al. Earth beyond six of nine planetary boundaries. Science Advances. 15. September 2023; 9(37).
  7. Ceballos G, Ehrlich PR, Barnosky AD, García A, Pringle RM, Palmer TM. Accelerated modern human-induced species losses: Entering the sixth mass extinction. Science Advances. Juni 2015; 1 (5).
  8. Klaus G, Cordillot F, Künzle I. Gefährdete Arten und Lebensräume  in der Schweiz. Synthese Rote Listen. Bern: Bundesamt für Umwelt (BAFU); 2023.
  9. Bar-On YM, Phillips R, Milo R. The biomass distribution on Earth. Proc Natl Acad Sci USA. 19. Juni 2018; 115(25): 6506–11.
  10. Attenborough D. How to save our planet [Internet]. ourplanet.com; 2019 [abgerufen am 24. Februar 2024]. URL: https://www.ourplanet.com/de/video/how-to-save-our-planet
  11. Welzer H. Alles Könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Frankfurt am Main: Fischer; 2020.
  12. Steiner R. Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2018.

 

 

 


Laurino Lucca Amos • Studiert Biologie mit Minor Geschichte, Gesellschaft, Politik an der Universität Zürich. Vorstandsmitglied Trägerverein Atelierschule Zürich.