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impulse

Digitales Magazin • Januar 2023 

 

 

 

Thomas Stöckli

 

 

die parzivalfrage
und die erweiterung der schule
zur «lebensschule»

 

 

 

Es lassen sich heute noch sehr aktuelle Entwicklungsmotive im mittelalterlichen Epos Parzival finden (1), mit Blick auf die Jugendlichen der Gegenwart und Zukunft.

Parzivals Entwicklung beginnt im beschützten Waldbezirk von «Soltane», sie entspricht einer schönen heilen Welt der Kindheit. Aber so wie Parzival als Jugendlicher später in die Welt hinausreitet, um Abenteuer zu suchen, so geht es jedem jungen Menschen. Auch eine schöne Waldorfschule kann ein Stück «Soltane» sein, aus der es auszubrechen gilt, um endlich den Schutz der Erziehenden zu verlassen. Der junge Mensch hat den natürlichen Drang, die noch unbekannte, spannende, gefährliche Welt ausserhalb der umfriedeten Zone kennenzulernen, und dies nicht aus Schulbüchern, nicht von Erzählungen, sondern existentiell, wie der Name sagt, «Par-ce-Val», mitten hindurch, mitten im Leben. Doch reif ist Parzival anfangs noch nicht, gehört doch zur menschlichen Reife auch das Mitgefühl, eine Empathie zu den Mitmenschen, die erst die Ideale erdet und mit verantwortungsbewussten Taten verbindet. Nachdem Parzival es in der Gralsburg verpasst, die entscheidende Frage aus Mitgefühl zu stellen, wird er vom Gral weggewiesen. Er irrt danach jahrelang in der Welt herum, wird schuldig an seinen Mitmenschen, beginnt zu zweifeln an sich, am Sinn des Lebens, an Gott. Doch tief in seinem Herzen treibt ihn die Sehnsucht immer weiter, die Sehnsucht nach wahrer Liebe, so dass er trotz aller Zweifel, ja wachsender Verzweiflungsmomente weiterkämpft, weitersucht, und glücklicherweise immer wieder auf reife Menschen trifft, die zugunsten seiner Ich-Reifung ‹Entwicklungshilfe› selbstlos leisten und ihm lebensentscheidende Hinweise geben.

Und genau an diesem Punkt ist nicht nur eine neue innere Haltung der Pädagogen gefragt, ‹Hebammen› zu werden für die Ich-Geburt, Begleiter im Finden der biographischen Motive. Es geht noch um mehr, es geht um eine vollständige Metamorphose der Institution Schule, jeder Schule, auch der Waldorfschulen. Können wir die Schule noch ganz anders denken, weg von «Soltane», weg von der Studierstube, mitten im Leben?

  

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Dabei muss die Schule die Tore weit öffnen ins Leben, in die Welt von heute, und diese nicht ausklammern und wegdefinieren als ‹ausserschulischen Bereich›. Konkret geht es also bei der Parzivalfrage in erweitertem Sinne gar nicht um literarische Bildung, sondern um das Lernen im Leben selber, weil ab dem Jugendalter «das Leben der grosse Lehrmeister» wird (2). Je schöner eine Schule, je besser die Lehrpersonen im Klassenzimmer, desto wichtiger ist es, dass eine Schule im Sinne der Polaritätspädagogik (3) auch die Seite der ‹Aussenwelt›, die Welt des ‹Arbeitens für Andere› und auch der Berufswelt dem jungen Menschen öffnet. Und zwar nicht nur zaghaft und ein paar Wochen pro Schuljahr, sondern integriert während der Schulzeit in den obersten Klassen – für alle, vor allem auch für angehende Abiturient:innen und Akademiker:innen! Spätestens ab der 11. Klasse gilt es zu differenzieren. Den Individualisierungsprozess auf dem Weg zum verantwortungsvoll wirkenden Ich geht jede und jeder vorerst allein. Und findet sich dann gerne wieder ein in einer solch weltoffenen Schulgemeinschaft (4).

 

 

  1. Seiler, Ueli-Hugova (2014): Das Grosse Parzivalbuch, Stuttgart: SchneiderEditionen.
  2. Steiner, Rudolf (1998): Vortrag für die Eltern der Waldorfschulkinder, Stuttgart, 31. August 1919, abends, in: Idee und Praxis der Waldorfschule, GA 297, Dornach: Rudolf Steiner Verlag.
  3. Schneider, Peter und Enderle, Inga (2012): Das Waldorf-Berufskolleg, Frankfurt a.M.: Peter Lang.
  4. Zum «Lebenslernen» siehe: Lebenslernen, Institut für Praxisforschung.

 

 

 


Dr. Thomas Stöckli, Dozent an der Akademie für anthroposophische Pädagogik, Dornach. Leitung Institut für Praxisforschung, Bellach.