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Digitales Magazin • Dezember 2022 

 

 

Tomáš Zdražil 

 

 

abhängigkeit oder selbstbestimmung?


Eine Bemerkung zum Menschenbild von Klaus Schwab und Rudolf Steiner

 

 

 

Frei sein und durch sich selbst bestimmt sein, von innen heraus bestimmt sein, ist eins.

Friedrich Schiller, Brief an Gottfried Körner, 23. Februar 1793


Nun haben wir die Umwelt in kurzer Zeit grundlegend verändert. Ein entsprechendes Menschenbild dafür haben wir aber noch nicht gefunden.

Remo Largo, Zusammen leben, 2020


Die aktuellen Veränderungen der Umwelt in der heutigen Zeit werden mit der sogenannten vierten industriellen Revolution in Verbindung gebracht. Klaus Schwab, Gründer und Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, charakterisiert in seinem Buch «Die Vierte Industrielle Revolution» (2016) das gegenwärtige und zukünftige Menschsein: «Die Vierte Industrielle Revolution verändert nicht nur, was wir tun, sondern auch, wer wir sind. Ihre Auswirkungen auf den Einzelnen sind vielfältig und betreffen unsere Identität …» (S. 145, Hervorhebung TZ). Es geht um Technologien, durch die der Mensch als Objekt in seinem Wesen verändert wird. Schwab befasst sich mit den wichtigsten Fähigkeiten des Menschen der Zukunft und kommt auf vier Intelligenzarten zu sprechen:

1. Eine praktische oder kontextuelle Intelligenz («der Verstand»), die uns hilft, unser Wissen anzuwenden.
2. Eine emotionale Intelligenz («das Herz»), bei der es um die Verinnerlichung und Vermittlung unseres Wissens geht.
3. Eine spirituelle Intelligenz («die Seele»), die ein kollektives moralisches Bewusstsein erzeugen soll.
4. Eine physische Intelligenz («der Körper»), bei der es um die Herstellung des Wohlbefindens und Erhaltung der Gesundheit geht.

Die Frage eines aktiven Subjektes und Individuums («Geist») bleibt hier offen. Man sucht in dem anthropologischen Koordinatensystem von Schwab neben Verstand (Denken) und Herz (Fühlen) auch die dritte Seelenkraft vergeblich, den Willen. Dabei ist der Wille die Fähigkeit, mit der der Mensch sich selbst und seine Umwelt eigenaktiv gestalten kann. Die Veränderung dessen, wer wir sind, wird sich maßgeblich auf dem Gebiet der Bildung entscheiden, das ist implizit klar, obwohl sich Klaus Schwab in seinem Buch mit der Bildung nicht befasst.

Der Autor der «Philosophie der Freiheit» und Begründer der Waldorfpädagogik, Rudolf Steiner, spricht ca. hundert Jahre früher in seinem Kurs «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik» (1919) eine Grundbedingung der zukünftigen Pädagogik aus: «Sie werden nicht gute Erzieher und Unterrichter werden, wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun, wenn Sie nicht auf dasjenige sehen werden, was Sie sind» (Vortrag 21. August 1919, GA 293, Hervorhebung TZ). Der Sinn der Anthroposophie bestehe nach Steiner darin, dem individuellen autonomen Geist des Menschen Mittel zur Verfügung zu stellen, damit dieser aus eigenem freien Entschluss und im Sinne der Selbstbildung und -erziehung seine Seelenkräfte weiterentwickelt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Wille des Menschen, für Steiner die entscheidende Seelenkraft, geistig, aus dem Kern seines Wesens sprudelnd. Auf einem aktiven Willen beruht die innere Selbstbestimmung und alle Bildungsprozesse haben die Aufgabe, diesen Willen eines Kindes und Jugendlichen zu erziehen.

In der Waldorfpädagogik nimmt der autonome und kreative Wille eine Schlüsselstellung ein. Einerseits im Sinne der Selbst- und Willensbildung der Schülerinnen und Schüler, an welcher sich die Unterrichtsmethodik orientiert und welche insbesondere durch praktische Anwendung der Künste, handwerklichen Unterricht, Gartenbau oder Bewegungsfächer angeregt wird. Andererseits als innere Aktivierung und Weiterentwicklung der Lehrperson. Ihre Willenskraft befeuert die Motivation der Schülerinnen und Schüler in all ihren Bildungsprozessen.

Um die modernen digitalen Technologien menschengemäss in die Gesellschaft und Kultur einzugliedern, brauchen wir die Willensbildung. Damit pflegen wir den autonomen Menschen und verhindern eine sonst unaufhaltbare Abhängigkeit im Sinne eines homo kyberneticus.

 

 

 


Prof. Dr. Tomáš Zdražil • Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik der Freien Hochschule Stuttgart, Leitung von Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik.

 

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