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Digitales Magazin • April 2024

 

 


umschau im netz • april 2024


 

 

 

«Archipele der Zukunft»

«Wahrheit erscheint mir nicht als ein Fixstern in der Ferne, wo sie verankert ist, die irgendwann erreicht werden kann.» Mit diesen Worten leitet der Filmregisseur Werner Herzog in seinem Buch Die Zukunft der Wahrheit (S. 9) eine Reihe von kurzen Essays ein, die um das komplexe Thema der Wahrheit kreisen. Für Herzog ist Wahrheit ein fortwährender Prozess, ein immerwährendes Bemühen, sich ihr zu nähern, eine Bewegung auf sie zu, eine ungewisse Reise, eine Suche. Mit dieser Perspektive steht er in der Tradition von Denkern wie Martin Buber und Hannah Arendt, die eine dialogische Haltung gegenüber der Welt vertreten.

In diesem Kontext erscheinen auch Schulen oft als Institutionen, die, manchmal unbewusst, im Kern von feststehenden Wahrheiten ausgehen. Sie bereiten die Menschen auf eine angeblich vorgegebene Welt vor, in der sie handeln können, nachdem sie ihre vermeintlichen Grundlagen verinnerlicht haben. Selbst Begriffe wie «Erziehung zur Freiheit» können in diesem Zusammenhang als solche Fixsterne erscheinen und nicht als offene Bewegung.

Eine ganz andere Sichtweise vertritt demgegenüber der Schriftsteller und Denker Édouard Glissant, eine «Poetik der Beziehungen», die er der imperialen, standardisierenden Globalisierung in unserem Denken und unserer Wirklichkeit entgegensetzte und die betont, dass «die Spur des Lebens nicht durch das Identische, sondern durch das Verschiedene» gelegt wird. In seinem lesenswerten Artikel «Archipele der Zukunft» untersucht Bodo von Plato mit Blick auf das «archipelische» Denken Glissants in seinem letzten Werk Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite und Steiners Freiheitsphilosophie die Möglichkeiten eines zeitgemässen Umgangs mit Fragen der individuellen Verantwortung und des Handelns. Der Artikel ermutigt dazu, sich auf die Gegenwart einzulassen, auf eine Reise ins Ungewisse.

In manchen Zügen verwandt auf der Suche nach Ideen, die über die alten Vorstellungen von Identität und Dualität hinausgehen, erscheinen die Denkansätze des Schriftstellers und Psychologen Bayo Akomolafe, mit dem das SRF kürzlich in den «Sternstunden Philosophie» ein interessantes Gespräch aufgezeichnet hat. Als Motto stellt Werner Herzog seinen Überlegungen zur Wahrheitssuche die folgende persische Legende voran: «Gott hatte einen großen Spiegel, und als Gott in den Spiegel sah, sah er die Wahrheit. Da liess Gott den Spiegel fallen, und der Spiegel zersprang in tausend Scherben. Die Menschen rauften sich darum, einen der Scherben zu erhaschen. Sie blickten alle in ihren Scherben, sahen sich und glaubten, die Wahrheit zu erkennen.»

 

Werner Herzog, Die Zukunft der Wahrheit, München 2024

`Édouard Glissant, Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite, Heidelberg 2011

 Bodo von Plato, Archipele der Zukunft, in: Das Goetheanum, 25. Mai 2023

 Bayo Akomolafe – Wie wir aus der Krisenspirale herausfinden, Sternstunde Philosophie, SRF Kultur, 10.03.2024

 


 

Redaktion